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Mit Nadel und Faden: Beispiel für gelungene Integrationsarbeit

Nähstubeneröffnung

Große, kräftige Hände, die dennoch feinfühlig zu Werke gehen und ein strahlendes Lächeln unter braunen Augen. Augen, denen man in ruhigen Momenten ansieht, dass sie viel mehr von der Welt und ihren Konflikten gesehen haben, als ihnen lieb gewesen wäre.

Atighola Nezami war erst zehn Jahre alt, als er mit seinen Eltern aus Afghanistan flüchten musste. Ziel der Familie war 1983 der Iran. Zwei Jahre später begann der junge Atighola bei einem Schneider zu arbeiten, um die Familie zu unterstützen. Bereits mit 18 Jahren besaß er genug Erfahrung, gepaart mit Können und einem Gespür für Stoffe, Schnitte und Farben, um sich selbstständig machen zu können. Erfolgreich – denn sonst hätte er seine große Liebe Latifa nicht schon 24 Monate später heiraten können.

Über drei Jahrzehnte war für ihn und seine inzwischen 5-köpfige Familie die Welt weitgehend in Ordnung. Bis sich das Leben für geflüchtete Afghanen im Iran immer schwieriger gestaltete. Je größer die durch politische Sanktionen bedingte Wirtschaftskrise im Iran wurde, desto öfter wurden Menschen wie die Nezamis angefeindet, vom sozialen Leben ausgeschlossen und oft genug in die Illegalität abgedrängt. In Afghanistan gab es für Atighola und seine Familie nichts, was sie zurückzog. Also entschlossen sich er und Latifa, in Deutschland um Asyl zu bitten. Das war im Jahr 2015 und so landete die ganze Familie durch eine entsprechende Zuweisung im Oktober 2015 in Gambach.

Der Antrag der Familie wurde schließlich positiv beschieden. Die Erleichterung war groß. Doch die eigentliche Arbeit für die Neubürger begann erst. Deutsch lernen, eine bezahlbare Unterkunft finden, Arbeit suchen. All das in einem fremden Land, einer völlig anderen Kultur. Ein Mammutprojekt, schier unmöglich zu stemmen.

Gut, dass es in Münzenberg seit über fünf Jahren engagierte Menschen mit sehr viel Herz gibt. Menschen, die nicht tatenlos zusehen mochten, wie Geflüchtete hilflos in Gambach strandeten. Menschen, die zupackten und so die große Lücke füllten, die trotz Sozialarbeiter*innen und städtischen Betreuungskräften klaffte. Eine von diesen ist Gabi Sickel. Ihr lag Familie Nezami von Anfang an am Herzen, und sie schaffte es mit viel Energie, Hartnäckigkeit, einem enormen Zeitaufwand und viel Humor, dass Atighola und seine Lieben in Gambach Fuß fassen konnten.

Zuletzt war Gabi Sickel maßgeblich daran beteiligt, die berufliche Zukunft des Hausherrn anzustoßen. Sie vermittelte den Kontakt zu Liesel Kristen, einer in Gambach wohlbekannten Schneidermeisterin. Inzwischen über 80 Jahre alt war Liesel Kristen entzückt, in Person von Atighola Nezami einen fähigen Nachfolger für ihr Metier zu finden. Etliche Fachgespräche überzeugten sie von Atighola Nezamis Können und so schenkte sie ihm für den Start seines eigenen Schneiderateliers Stoff und eine Umkleidekabine.

Das am 1. März 2020 in Kraft getretene Fachkräfteeinwanderungsgesetz brachte für Atighola Nezami die entscheidende Wende für seinen beruflichen Start in Deutschland. Endlich kann und darf er seine Berufserfahrung aus über 35 Jahren als Schneider aktiv einsetzen und so hoffentlich bald ohne staatliche Unterstützung für den Lebensunterhalt für sich und seine Familie verdienen. Der nun einsetzende „Papierkram“ von Gewerbeanmeldung über Finanzamt und Handwerkskammer ist heftig. Dank der tatkräftigen Unterstützung durch den früheren Unternehmensberater und Nachbarschaftshelfer Wolfang Meintrup ist Atighola Nezami nun auf dem besten Wege, sich endlich seiner eigentlichen Arbeit mit Nadel, Schere und Nähmaschine zuwenden zu können.

Eines wird durch das Beispiel des afghanisch-stämmigen Schneiders deutlich: Ja – es gibt gelungene Integrationsarbeit. Doch der Weg dorthin ist lang, zeitintensiv und ohne umfassende Unterstützung nicht zu schaffen. Unterstützung seitens der Behörden wie Jobcenter oder Wetteraukreis, Unterstützung durch die Kommunen vor Ort und vor allem Unterstützung durch Ehrenamtler wie Meintrup und Sickel.

Übrigens – eine der ersten Kundinnen der Änderungsschneiderei Nezami war übrigens Bürgermeisterin Dr. Isabell Tammer, die sich im Vorfeld bei den verschiedenen zuständigen Stellen auf Kreisebene für Atighola Nezami eingesetzt hatte. „Ich bin begeistert und freue mich sehr, dass alles ein gutes Ende genommen hat“, so Dr. Isabell Tammer bei einer Tasse Tee im Hof der Mittelstraße 23.

Übrigens - die Öffnungszeiten der Änderungsschneiderei Nezami in der Mittelstraße 23 sind ab sofort: Montag bis Freitag von 14 bis 19 Uhr sowie Samstag von 10 bis 14 Uhr. Kund*innen und Interessent*innen sind während der Geschäftszeiten ohne Voranmeldung willkommen. Der Empfang ist garantiert sehr herzlich, eine Tasse Tee von Ehefrau Latifa inklusive. „Das ist im Nahen Osten Brauch und gehört einfach dazu“, lächelt Ortsvorsteherin Gabi Sickel, die das aus eigener Erfahrung kennt und zu schätzen weiß.

BU’s:
Schneider Atighola Nezami bietet in seiner Werkstatt das volle Programm – von Änderungen und Reparaturen bis hin zu Maßanfertigungen wie Hosen oder Hochzeits- und Abendmode (Text/Foto: Müh).

Gambachs Ortsvorsteherin Gabi Sickel (links) und Wolfgang Meintrup von der Nachbarschaftshilfe Münzenberg haben Atighola Nezami ehrenamtlich sehr intensiv unterstützt. Bürgermeisterin Dr. Isabell Tammer (2. von rechts) freut sich über die Eröffnung der Änderungsschneider durch einen „ihrer“ Flüchtlinge (Text/Foto: Müh).

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